Einleitung
Ökonomen und Softwareingenieure der heutigen Zeit führen auf der Blockchain basierte Governance Experimente durch. Dabei nutzen sie die der Blockchain inhärente transparente und verifizierbare Struktur, um die gesellschaftliche Konsens-Infrastruktur der Zukunft zu erfinden. Eines dieser Experimente ist bekannt unter dem Namen fractal democracy (Fraktale Demokratie).
Viel Aufmerksamkeit bekommt die Idee der fraktalen Demokratie seit dem Erscheinen des Buchs More Equal Animals, the subtle art of true democracy (Deutsche Übersetzung: Gleichere Tiere, die subtile Kunst einer echten Demokratie) von Daniel Larimer und seit der allerersten Instanziierung der Prinzipien der fraktalen Demokratie in der rapide anwachsenden Community EDEN on EOS. Das Prinzip der fraktalen Demokratie kann prinzipiell in jeder Art von Gemeinschaft, darunter Blockchains, Firmen, politischen Parteien, Staaten und vielen mehr, dazu verwendet werden, einen Konsens zu finden.
Der Status Quo
Bevor man sich den Lösungen zuwendet, die eine fraktale Demokratie für viele Fragen bietet, ist es wichtig, die Probleme unseres aktuellen Konsens-Mechanismus zu erkennen. Menschen werden vielmals in ein Regierungssystem geboren, welches folgende problematischen Charakteristiken aufweist:
Der politische Einfluss eines Wählers ist verschwindend gering.
Rationale Ignoranz durchdringt die Wählerschaft, da die Kosten für die persönliche Bildung den Wert der eigenen Wahlstimme so drastisch übersteigen.
Viele Mechanismen, darunter Größenvorteile, Vorteile etablierter Unternehmen, Pareto Verteilung von Wohlstand und Macht, sind den Wählern gänzlich unbekannt oder werden von ihnen missverstanden. Dies limitiert eine sinnvolle Teilnahme.
Wahlen, Nominierungen von Parteikandidaten und weitere zentrale Systeme sind undurchsichtig, nicht verifizierbar und oft nicht konform mit dem Konsens in der angeblich repräsentierten Wählerschaft.
Der Mangel an Koordination macht Veränderungen oder Sezession sehr schwierig bis unmöglich.
Übliche Praktiken, wie beispielsweise das Gerrymandering (Deutsch: Wahlkreismanipulation) in den USA, vermindern die Auswirkung von Koordination in der Wählerschaft nennenswert.
Die eben genannten Charakteristiken delegitimieren viele Regierungssysteme in den Augen der Regierten. Mangel an Vertrauen in Regierungssysteme unterminiert Kooperation und kann Regierungen zu noch autoritäreren Kontrollsystemen drängen, was wiederum zu mehr Misstrauen führt. Diese negative Rückkopplungsschleife scheint in vielen Regierungen auf der ganzen Welt zu wirken.
Blockchains
Die Blockchain bietet uns nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, Governance-Experimente im großen Maßstab durchzuführen und dabei gemeinsam vom darwinistischen-Auswahlprozess zu profitieren, welcher nur die besten und erfolgreichsten Mechanismen fördert. Die meisten dieser Blockchain-Governance-Mechanismen nutzen allerdings eine Art von Stimmengewichtung, welche proportional zu einem objektiv quantifizierbaren Stake (Deutsch: Anteil) ist. Dies geschieht entweder in der Form von Proof of Work als ein Proxy (auch: Stellvertreter) für Kosten (Energiekosten), oder Proof of Stake, sprich, freiwillig gesperrte Tokens im Sinne von Festgeld, um die Betreiber der Infrastruktur zu erwählen, welche für die Erreichung eines Gruppenkonsenses essentiell sind.
Während diese Konsens-Mechanismen in vielerlei Ansicht große Verbesserungen gegenüber den traditionellen Governance-Mechanismen bieten, müssen auch sie gewisse Schwierigkeiten bewältigen. Das coin-voting (Deutsch: Münzen-Wählen) ist daher auch im Fadenkreuz von Krypto-Ökonomen wie Vitalik Buterin, Vlad Zamfir, Daniel Larimer und anderen. Einige der Vorwürfe lauten wie folgt:
Es gibt potentiell ungleiche Interessen zwischen Coin-Haltern (oder Staker) und anderen Mitgliedern einer Blockchain-Community, wie zum Beispiel Nutzern und dApp-Entwicklern
Größenvorteile und die Pareto-Verteilung des Wohlstands könnten zu einer Verzerrung des Konsenses führen, indem finanzstärkere Player, darunter auch zentralisierte Exchanges (Deutsch: zentralisierte Börsen) überrepräsentiert werden.
Wenn Erträge nicht linear proportional zu dem Stake-Anteil sind, wird das Protokoll zunehmend anfällig für Sybil-Attacken, wobei mittels der Erstellung falscher Identitäten, Werte aus dem Netzwerk gezogen werden können.
Der Einfluss der Wähler ist bei Weitem geringer als deren Fähigkeit, das Wahlergebnis zu beeinflussen. Dies kann zu Wahlapathie und noch tiefgreifenderer rationaler Ignoranz führen.
Die sogenannte on-chain-Governance (Governance direkt auf der Blockchain), trägt zwar zur Transparenz der heutigen traditionellen Governance-Infrastrukturen bei, viele der Herausforderungen bleiben jedoch bestehen. Die fraktale Demokratie hingegen ist ein Prozess, welcher alle Herausforderungen adressiert, sei es in traditionellen Demokratien oder in Coin-basierten und Work-basierten Blockchain-Governance-Systemen.
Inhaltsübersicht
Fraktale Demokratie
Der Begriff fraktale Demokratie beschreibt einen neuen Konsens-Mechanismus, der darauf abzielt, durch seine Einfachheit und Verifizierbarkeit das Vertrauen der Regierten wiederzuerlangen. Er ist frei von ideologischen Ansprüchen, nicht mit anderen Blockchains oder Governance-Prozessen verbunden und könnte von nicht-technisierten Gemeinschaften voll implementiert werden, um deren Koordinationsfähigkeit zu verbessern. Um das Prinzip der fraktalen Demokratie zu verstehen, müssen wir erst den Grundprozess auf der hohen Ebene betrachten. Anschließend wenden wir uns den interessanteren und esoterischen Merkmalen zu, um zu verstehen, warum die fraktale Demokratie so revolutionär ist.
Beachte: Dies ist keine umfassende Beschreibung des fraktalen Demokratie-Prozesses. Eher soll hier eine generelle Übersicht gegeben werden, um zu verstehen, woher die von den Befürwortern als vorteilhaft bezeichneten Merkmale herrühren.
Wachstum
Communities, welche mittels fraktaler Demokratie geformt werden, schützen ihre Legitimität, ihre Unabhängigkeit und ihren Zusammenhalt mit mehreren wesentlichen Methoden. Um einer Community beizutreten, muss der Anwärter:
Eine Verfassung oder einen Friedensvertrag unterzeichnen, welcher die Statuten der Community kodifiziert
Ein kurzes Video aufnehmen, worin mehrere Mitglieder öffentlich für den Anwärter einstehen.
Eine kleine jährliche Spende für die Community durchführen
Dieses Verfahren ist nicht weit verbreitet. Insbesondere in Blockchain-basierten Communities herrschen meist Systeme mit loser Identität, in welchen Mitglieder nur mittels objektiver Messgrößen, wie etwa der Höhe ihres Stakes, beurteilt werden können. Fraktale Demokratien bauen auf einer strengen Identitätsverifikation auf und ermutigen die Formation kohäsiver Communities. Deren geteilten Werte treten auf dem Marktplatz der freien Ideen in Kompetition. Mittels einer monetären Spende an die Community, zeigt der Anwärter, dass er zumindestens einen geringen Stake besitzt und engagiert ist. Des Weiteren dient die Spende dazu, diejenigen abzuschrecken, die der Community schaden möchten.
Communities sind nicht dazu erdacht endlos zu wachsen. Es gibt nach Dunbar eine theoretische „kognitive Grenze“ der Anzahl an Menschen, mit denen eine Einzelperson soziale Beziehungen unterhalten kann. Nach diesem Prinzip fördert die fraktale Demokratie nicht größere, langsame und monolithische Zusammenschlüsse, sondern kleinerer und agilerer Communities. In der ersten Instanziierung hat die Eden-Community dafür gestimmt, die Maximalzahl der Mitglieder auf 10.000 zu beschränken.
Wahl
Angenommen eine Community hat einen Finanzierungspool, so muss sie via Konsensentscheid darüber bestimmen, wie die Mittel zum maximalen Nutzen für die Community verteilt werden. Um das zu erreichen, verteilt die Community Mittel an ihre Mitglieder mittels Mechanismen der fraktalen Demokratie.
Mittels Zufallsprinzip werden am Wahltag kleinere Zoom-Videokonferenz-Gruppen (Beispiel 5-10 Personen) aus allen partizipierenden Mitgliedern erstellt. Jede dieser kleinen Gruppen hat ungefähr eine Stunde, um einen 2/3 Konsens darüber zu finden, welches Mitglied (1) als Delegierter in die nächsten Runde aufsteigen soll. Auch in der zweiten Wahlrunde werden kleinere Gruppen aus den Delegierten der ersten Gruppe mittels Zufallsprinzip erstellt und auch diese Gruppen müssen wieder mittels 2/3 Konsens entscheiden, welcher der Teilnehmer in die folgende Runde delegiert wird. Dieser Prozess geht so weiter, bis schließlich nur noch eine Gruppe übrig ist, die wir "The Board" nennen (Deutsch: Der Vorstand). In dieser Runde wird nach ausführlicher Diskussion per Losverfahren ein Head Chief Delegate (Deutsch: Chefdelegierter) ausgewählt. Die Videoaufzeichnungen aller Runden sollen allen Mitgliedern der Community zugänglich gemacht werden, damit jeder die Wahlkampfstrategie eines jeden Delegierten sehen kann.
Angenommen es gibt 10 Personen in jeder Wahlgruppe, dann würden pro Runde 90 % aller Kandidaten eliminiert werden. Dieses Verfahren stellt sicher, dass auch sehr große Gruppen ihre Delegierten in relativ wenigen Runden erwählen können. Für ein Land mit 300.000.000 Einwohner (ungefähre Population der Vereinigten Staaten), würde es nur 9 Konsens-Runden benötigen, um einen Chefdelegierten zu wählen (angenommen jeder der Einwohner würde an der Wahl teilnehmen).
Finanzierung
Am Ende eines jeden Wahlprozesses hat die Community eine Hierarchie von Delegierten geschaffen, welchen die Verantwortung der Mittelzuweisung anvertraut wird. Jedem Level der Delegierten-Hierarchie wird der selbe Anteil an der Gesamtfinanzierung zugewiesen, welcher monatlich auf die gewählten Delegierten in dieser Ebene aufgeteilt wird. Eine Beispielsverteilung für die Gesamtfinanzierung einer Delegiertenebene in einem Monat könnte so aussehen: `$(Betrag_des_Schatzamts / Anzahl_der_geförderten_Delegiertenebenen * 0.05)`. Die Anzahl der geförderten Delegiertenebenen kann kleiner sein, als die Gesamtzahl der Wahlrunden.
Es ist schwierig präzise Budgets vor einer realen Wahl zu kalkulieren, da die Gesamtzahl der gewählten Delegierten aufgrund von Abwesenheit der Wähler oder Nichterreichung eines Gruppenkonsenses (in diesem Fall gibt es keinen Aufsteiger) variieren kann. Eine Beispielallokation mit dem vorherigen Beispiel von einer Wahlbevölkerung von 300.000.000 Personen und einem Budget von $1 Billion Dollar (~16% Staatsbudgets der Vereinigten Staaten - Stand 2020) könnte wie folgt aussehen:
Wie man der Tabelle entnehmen kann, bekommt jede Delegiertenebene, die hoch genug ist, 164 Milliarden Dollar zugewiesen. Die höchste Ebene, der Chefdelegierte, erhält den Gesamtbetrag seiner Ebene. Auch in der niedrigsten Regierungsebene mit 26.666 Vertretern, erhält ein jeder 6.1 Millionen Dollar, die er oder sie in Übereinstimmung mit den Kampagnenversprechen ausgeben darf.
Bei den monatlichen Ausschüttungen wird immer nur ein gewisser Prozentsatz der Community-Gesamtkasse ausgeschüttet. Dies stellt sicher, dass Mittel für folgende Wahlen zur Verfügung stehen, unabhängig davon, ob zusätzliche Mittel der Community zugeteilt, oder von der Community generiert werden.
Hürden
Nun, da wir ein generelles Verständnis davon haben, wie in der fraktalen Demokratie Wahlen abgehalten werden und wie die Mittel verteilt werden, lohnt es sich zu betrachten, wie dieser Prozess anscheinend viele der Herausforderungen traditioneller Governance-Systeme meistert.
Verifizierung
In vielen Wahlsystemen ist die Verifizierung von Wahlergebnissen eine Herausforderung. Um Kritik an Unrechtmäßigkeiten bei Wahlen nachzugehen, bedarf es für die Community trivialer, simpler Mechanismen der Überprüfung des Ergebnisses.
In einer fraktalen Demokratie kann jedes der Mitglieder die Videoaufzeichnungen der Wahlgruppen ansehen und überprüfen, wie es zum Gruppenkonsens gekommen ist. Es würde nur einige Stunden dauern, alle Videoaufzeichnungen eines Delegierten bei einer Wahl anzusehen, um zu verstehen, wie sich dessen Aufstieg zur Macht vollzog. Dies stellt sicher, dass die gewählten Delegierten weiterhin als legitim in den Augen der Community gelten. Diese Art von Transparenz hat noch weitere Vorteile. Diese werden weiter unten in diesem Dokument detailliert aufgezeigt.
Einfluss
In traditionellen demokratischen Wahlen sind die Kosten der Informationsbeschaffung sehr hoch und der individuelle Einfluss auf das Wahlergebnis ist relativ gering. Der Anreiz, sich bei einer Wahl voll zu engagieren, ist deshalb sehr gering. Diese Herausforderung zu überwinden, ist eines der primären Ziele der fraktalen Demokratie.
Um verschiedene Regierungsprozesse besser miteinander vergleichen zu können, wäre es möglich zu messen, wie sehr der individuelle politische Einfluss sinkt, je größer die Wahlpopulation wird. Einfluss zu messen ist jedoch knifflig. Außerdem hängt es davon ab, wie jemand "Einfluss" definiert. Im folgenden Beispiel soll dies verdeutlicht werden: Welchen Einfluss hattest du auf die Wahl, in welcher dein gewählter Kandidat verlor? Oder wie würdest du deinen Einfluss auf eine Wahl quantifizieren, bei welcher du im Vorfeld ein Marketingvideo für deinen Kandidaten veröffentlicht hast, welches sich viral verbreitet hat? Im Kontext dieses Artikels stellt "Einfluss" einfach eine Zahl dar, welche der Anzahl anderer Wähler entspricht, mit welchen deine Meinung bei der Konsensfindung konkurriert.
Gemäß dieser Definition, sinkt der politische Einfluss eines Einzelnen in einer direkten Demokratie linear mit der Zunahme der Population:
Intuitiv betrachtet, macht das durchaus Sinn. In einer direkten Demokratie würdest du nur einer von vielen anderen miteinander konkurrierenden Wählern sein. Aus diesem Grund würde dein Stimmgewicht auch nur 1 aus der gesamten Wahlpopulation sein.
In der fraktalen Demokratie ist des Einzelnen Wahlgewicht logarithmisch skaliert und nicht linear. Das bedeutet, dass dein Einfluss nur abnimmt, wenn die Anzahl der Ebenen des Wahl-Baumes ansteigt und nicht wenn die Population zunimmt:
Des Weiteren wird das Wahlgewicht eines Delegierten auf höheren Ebenen mit dem Faktor Gruppengröße multipliziert - jedes Mal wenn eine nächste Ebene erreicht wird. Bei unserem Beispiel mit 300 Millionen Wahlberechtigten und einer Wahlgruppengröße von 10, nimmt der Wählereinfluss auf jeder Delegiertenebene zu, während er bei der direkten Demokratie konstant bleibt, wie folgendes Schema veranschaulicht:
Das Diagramm verdeutlicht den Einfluss des Wählers auf das Endergebnis. Bei einer Wahlgruppengröße von 10 hat jeder Wähler in einer Gruppe genau 1/10 Einfluss, unabhängig von der Delegiertenebene auf welcher er sich gerade befindet. Aber jedes mal, wenn ein Kandidat die Unterstützung von mindestens 6 anderen in seiner Wahlgruppe erhält, wächst sein Wahlgewicht um eine Größenordnung.
Wie du sehen kannst, maximiert die fraktale Demokratie den Einfluss des Einzelnen auf die Wahl, sogar wenn Communities sehr groß werden. Während in direkten Demokratien die "Gleichheit" der Wahlstimmen von unquantifizierbaren Einflüssen und undurchsichtigen Partnerschaften (zum Beispiel die Nähe eines Kandidaten zu Medienanstalten) verzerrt wird, bietet die fraktale Demokratie volle Transparenze bei der Vergrößerung des Wahlgewichts, welches zudem direkt proportional zu dem Ausmaß ist, in welchem der oder die Kandidaten einen Konsens in ihren Wahlgruppen erzielen konnten.
Kampagnen
Wie kann ein Kandidat in einem traditionellen politischen System das Formen eines Konsenses fördern, wenn die Menschen, die für einen Konsens erforderlich sind, nicht direkt mit ihm kommunizieren können? Um den Konsens zu erreichen wird der Schelling Point oder "Fokaler Punkt" genannt. Er stellt in der Spieltheorie eine Lösung dar, die alle Spieler, wenn sie nicht miteinander kommunizieren können, dennoch unabhängig voneinander gleichlautend wählen, weil diese Lösung ihnen „natürlich“ oder „herausragend“ erscheint.
Wahlkampagnen versuchen Rezipienten nicht nur davon zu überzeugen, dass der Kandidat gut ist, sondern auch davon, dass jeder andere denkt, der Kandidat sei gut. Einmal überzeugt, ist es möglich, dass ein Wähler nicht seinen präferierten Kandidaten wählt, um seine Stimme nicht zu "verschwenden". Viele Wähler entscheiden sich somit für das "kleinere Übel" anstatt ihren gewünschten Kandidaten zu wählen. Das sogenannte Schelling-Point-Wählen findet vor allem dann statt, wenn es unzulängliche Möglichkeiten in einer Gemeinschaft gibt, die eigenen Vorlieben zu kommunizieren. Die fraktale Demokratie leidet nicht so sehr unter diesem Problem, da jeder gewählte Delegierte einen direkten Konsens in einer spezifischen, kleinen Gruppe erreichen muss. Aus diesem Grund gibt es nahezu keinen Anreiz für Kandidaten, Geld für eine große Zwischenwahlkampfkampagne auszugeben, mit dem Ziel, sich selber als Schelling Point zu etablieren.
Traditionelle Zwischenwahlkämpfe sind in einer fraktalen Demokratie weniger wirtschaftlich effizient. Dies liegt daran, dass nur diejenigen überzeugt werden müssen, die per Zufallsprinzip in der eigenen Gruppe sind und nicht alle potentiellen Wähler. Ein Kandidat in einer fraktalen Demokratie würde somit eine teure Kampagne bezahlen, die auf alle Wähler zielt, obwohl der Großteil der Menschen gar nicht direkt zu seiner Ernennung beitragen würde.
Vorteile der etablierter Player
In traditionellen Demokratien genießen etablierte Kandidaten die Schelling-Point-Position in ihrem Wahlkreis. Dies führt zu finanziellen Vorteilen bei politischen Kampagnen, sodass der etablierte Kandidat meist geringere Wahlkampfkosten als Konkurrenten zu tragen hat. Das Fehlen solcher Schelling-Point-Wähler in einer fraktalen Demokratie, ebnet das Spielfeld und eliminiert weitgehend Vorteile etablierter Parteien und Kandidaten. Sogar im dem Falle, dass eine etablierte Person es schafft, sich durch die Delegiertenebenen nach oben hochzuarbeiten, entscheidet in der letzten Runde immer das Zufallsprinzip, wer die Rolle des Chefdelegierten für die nächste Legislatur innehat. Somit gibt es in der fraktalen Demokratie auch immer die Möglichkeit für Minoritäten, an Machtpositionen zu kommen.
Des Weiteren sind die Wahlgruppen randomisiert organisiert. Dies bedeutet auch, dass ein Delegierter, der gewählt wurde, in der nächsten Wahl nicht mehr auf dem Konsens der letzten Wahl bauen kann. Jede Wahlgruppe ist sehr wahrscheinlich einzigartig und das bedeutet auch, dass ein Delegierter keinen etablierten Vorteil aus vorherigen Konsensentscheidungen in die nächste Wahl mitnehmen kann.
Natürlich genießen früher gewählte und wohlbekannte Delegierte einen Vertrauensvorteil, da sie keine Unbekannten sind und womöglich ihre Wahlversprechen erfüllt haben. Allerdings stellt gewonnenes Vertrauen eine vorteilhafte Asymmetrie dar. Vertrauen kann von allen Partizipanten gewonnen werden, nicht nur von Wahlgewinner.
Vereinnahmung durch politische Parteien
Ein Hauptgrund, warum politische Systeme scheitern ist, dass die Spieltheorie die Bevölkerung in zwei Parteien zersplittert, was das Bilden eines ehrlichen Konsenses stört und den Fortschritt blockiert. Jede politische Maschine, die nach Angst, Sensation und spaltenden Medienschlagzeilen lechzt, wählt von Natur aus polarisierende Kandidaten. Weiters ist der Selektionsprozess eines Spitzenkandidaten aus einer Partei heraus weitgehend undurchsichtig oder schlichtweg nicht öffentlich. Noch schlimmer ist: Der von diesem System selektierte Kandidat, muss lediglich mit der Parteilinie konform sein, nicht aber mit der gesamten Community. Eine unkoordinierte Community, vereinnahmt durch politische Parteien, hat es somit sehr schwer ihre Parteirepräsentanten zu stürzen.
In einer fraktalen Demokratie wird der >2/3 Konsens benötigt, um einen Kandidaten in die nächste Runde weiterzubringen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der 1/3 Konsens reicht, um einen Kandidaten zu blockieren. Dieser Mechanismus macht es Kandidaten, welche eine harte Haltung bei polarisierenden parteipolitischen Themen vertreten, schwer, gewählt zu werden.
Die Transparenz und die Leichtigkeit des Dissenses beim Wahlprozess sind die primären Mechanismen, mit welchen sich die fraktale Demokratie vor vielen Formen der Vereinnahmung schützen kann. Man kann sich als Beispiel einen Kandidaten vorstellen, dessen Wahlversprechen es ist, 1 Million Dollar an alle seine Unterstützer zu zahlen. Es würde in diesem Fall nur 1/3 einer ehrlichen Wahlgruppe benötigen, den böswilligen Plan des Kandidaten zu durchkreuzen. Außerdem würde aufgrund der Transparenz der Rest der Community von dem Verhalten des Kandidaten erfahren. Der Delegierte, der diese Stimmenkauf-Taktik anwendet und alle ihn unterstützenden Wähler, könnten dann von der Community ausgeschlossen werden.
Community Merkmale
Aufgrund des einzigartigen Wahlprozesses in der fraktalen Demokratie, genießen Communities, welche diesen übernehmen, einige Vorteile. Im Folgenden sind einige der erwünschten Vorteile der fraktalen Demokratie angeführt. Es bleibt abzuwarten, in wie weit die neu geformten Communities dem angestrebten Ideal entsprechen werden.
Resilienz
Kein System kann immer die perfekten Kandidaten auswählen. In einer fraktalen Demokratie soll es möglich sein, dass zügige Wahlen öfter stattfinden können und das System mit der Zeit und im Schnitt bessere Kandidaten hervorbringt, als jedes andere aktive politische System heutzutage. Das Ziel ist es eine Umgebung zu schaffen, in welcher Bösewichte limitierten Einfluss haben, rasch identifiziert sind und dann schnell entfernt werden können.
Antifragil
In Regierungssystemen gibt es oft eine systemische Abwägung zwischen Agilität und Fragilität. In einer maximal agilen Regierung, würde ein wohlwollender König schnell auf Bedrohungen von außen reagieren und entschlossen für das Wohl seines Reiches einstehen. Sein Nachfolger könnte aber ein böswilliger Diktator sein, welcher von seinem Königreich stiehlt und sich selbst bereichert. Auf der anderen Seite steht zum Beispiel die Bitcoin-Blockchain. Deren Merkmale sind Langsamkeit, enorme Redundanzkosten und langwierige Upgrades. Diese Merkmale machen Bitcoin aber gleichzeitig auch äußerst schwer korrumpierbar.
Agilität ist sehr wichtig. Nick Bostrom, Professor und Chef des Future of Humanity Institute der Oxford University hat kürzlich in seiner Vulnerable World Hypothesis (Deutsch: Hypothese einer vulnerablen Welt) geschrieben:
Damit eine Zivilisation die generelle Fähigkeit entwickelt, mit sogenannten Schwarzer-Schwan-Ereignissen (Englisch: Black Swan Events) umzugehen, müsste ein System der allgegenwärtigen weltweiten Echtzeitüberwachung eingeführt werden.
Bostrom wirbt für ein Konzept namens "turnkey totalitarianism" (Deutsch: Schlüsselfertiger Totalitarismus). Nur ein solches System maximaler Agilität hätte die Möglichkeit mit existenziellen Bedrohungen für die Menschheit rechtzeitig und richtig umzugehen. Stell dir beispielsweise einen Virus vor, welcher Größenordnungen ansteckender und tödlicher wie Covid-19 ist. Würde irgendein Regierungsprozess der Welt die Gefahr rechtzeitig identifizieren und rechtzeitig reagieren, um die Bevölkerung zu retten? Würde irgendeine gesellschaftliche Infrastruktur dezentralisiert genug sein, um zu überleben?
Fraktale Demokratien haben klare Führer, die zu jeder Zeit erwählt werden und mit der Aufgabe betraut werden können, im besten Interesse der Community zu handeln. Aber es gibt auch Selbstähnlichkeit, Selbstlenkung, Redundanz und architektonische Dezentralisierung auf allen Ebenen der Delegierten-Hierarchie. Aufgrund der architektonischen Dezentralisierung wäre eine Community-Teilung simpel und würde zwei autarke, selbst-ermächtigte Communities entstehen lassen. Eine Community wird ermächtigt, um schnell zu handeln aber ist nicht Anfällig für die Vereinnahmung durch einen Diktator.
Selbstähnlichkeit
Bei Fraktalen ist von Selbstähnlichkeit die Rede, wenn bei unendlicher Vergrößerung des untersuchten Objekts immer wieder die ursprüngliche Struktur erhalten wird.
Die fraktaler Demokratie hat ihren Namen von der Selbstähnlichkeit der Wahlstruktur in jeder Regierungsebene. Der Baum der Delegierten im Wahlprozess hat wiederum Unter-Bäume (Substrukturen), die eine ähnliche Struktur aufweisen - ganz nach dem Vorbild der Natur.
Wenn die Community wächst, können sich spezifischere Unter-Communities darin bilden. Um ein Maximum and Koordinationsfähigkeit bei der Verfolgung gemeinsamer Ziele zu erlangen, könnten diese Unter-Communites eine Organisationsform wählen, in welcher mittels fraktaler Demokratie ein Chefdelegierter gewählt wird. Dieser könnte die Organisation in der übergeordneten Community repräsentieren, mit dem Ziel, für Finanzierung zu werben. Der fraktale Demokratie-Prozess ermöglicht somit das Entstehen einer schier unbegrenzten Anzahl von Communities in der Community.
Neutral
Ein sehr wichtiges Konzept aus dem Feld des Mechanismusdesigns ist die Neutralität. Im Essentiellen bedeutet Neutralität, dass es keine Biases, keine Voreingenommenheiten im System gegenüber bestimmten Partizipanten gibt. Für Beispiele und tiefgreifendere Information über dieses äußerst wichtige Konzept, empfehle ich Vitalik Buterin's Artikel "Credible Neutrality as a Guiding Principle".
Es ist wichtig zu beachten, dass es viele Parameter gibt, welche den Prozess der fraktalen Demokratie beeinflussen. Einige dieser Parameter werden hier angeführt:
Anzahl der benötigten Bürgen für die Anwärter
Maximale Community-Größe
Ausschüttungsquote an Delegierte
Höhe der jährlichen Spende
Wahlgruppengröße
Benötigter Prozentsatz, um einen Gruppenkonsens zu erlangen
Länge der Wahlperiode
Um das Risiko der Überanpassung (Englisch: overfitting) zu vermeiden, sollten die Begründungen für Parameter von glaubwürdigen und neutralen Mechanismen abgeleitet werden. Beispiel: Der >2/3 Konsens ist nicht willkürlich verwendet worden, sondern kommt aus der Informatik und dient dazu, Byzantinische Fehler zu verhindern. Andere Parameter hingegen, zum Beispiel die Höhe der jährlichen Spende oder die Ausschüttungsquote, scheinen eher aus der allgemeinen Intuition zu kommen, als von irgendeinem glaubwürdigen neutralen Mechanismus.
Letzendes unterliegt es der Subjektivität, ob die Neutralität eines Mechanismus glaubwürdig ist oder nicht. Fakt ist aber, dass in der fraktalen Demokratie Parameter spezifiziert werden müssen und das macht den Prozess eben nicht ganz simpel - obwohl Simplizität eine wichtige Komponente einer glaubwürdigen Neutralität ist. Je mehr Parameter in einem Mechanismus existieren (desto höher ist die Kolmogorov Komplexität), desto höher auch die Wahrscheinlichkeit das der Mechanismus irgendwelche versteckte Voreingenommenheiten gegenüber eines bestimmten Ergebnisses hat.
Es bleibt abzuwarten, wie gut sich die fraktale Demokratie im größeren Maßstab etabliert, um einen Konsens in variierenden Kontexten zu finden und inwieweit die Partizipanten darauf vertrauen, dass der Prozess neutral bleibt.
Schlusswort
Die fraktale Demokratie ist in erster Linie ein Mechanismus, der es einer Community ermöglicht, einen Konsens zu finden und triviale Möglichkeiten bietet, das Ergebnis zu verifizieren. Es gibt zur Zeit eine reale Instanziierung einer fraktalen Demokratie, welche am 9. Oktober 2021 mit ~170 Mitgliedern ihre erste Wahl abhielt. Es wurden dabei ungefähr Mittel von 200.000 $EOS (ca. 1 Million Dollar) an die Delegierten verteilt. Diese Community ist bekannt als Eden und existiert auf der EOS Blockchain zum Wohle von EOS und dessen Community. Es wird interessant sein zu sehen, welche Probleme während des Prozesses identifiziert werden, auf welche Weise er manipuliert werden kann, oder in welcher Weise er seinen Gestaltungsabsichten nicht gerecht wird.
Falls erfolgreich, könnte die fraktale Demokratie Governance, Gesellschaften und Blockchains transformieren und den politischen Einfluss derjenigen Stärken, die am besten in der Lage sind, einen Konsens zu bilden. Letztendlich könnte die fraktale Demokratie die Basis für eine transparente, resiliente, effektive und dezentralisierte Gesellschaft sein, die menschliche Werte schützt und resilient gegenüber vielen Fallstricken traditioneller Regierungen ist.
Danke fürs Lesen! Ich hoffe dieser Artikel dient als hilfreiche Quelle für jene, die den Prozess und das Versprechen der fraktalen Demokratie besser verstehen möchten.
Ein spezieller Dank geht an James Mart, der diesen Artikel verfasst hat und an Mike Manfredi, Brandon Lovejoy und Chris Barnes für ihr Peer-Review.
Quellen
More Equal Animals, the subtle art of true democrycy von Daniel Larimer
Gleichere Tiere, die subtile Kunst einer echten Demokratie von Daniel Larimer (dt. Übersetzung)
Moving Beyond Coin Voting Governance, von Vitalik Buterin
Against On-Chain Governance, von Vlad Zamfir
The Limits of Crypto-Economic Governance, von Daniel Larimer
The Vulnerable World Hypothesis, by Nick Bostrom
The Meaning of Decentralization, by Vitalik Buterin
Selbstähnlichkeit bei Fraktalen
Credible Neutrality as a Guiding Principle, by Vitalik Buterin
Central Planning as Overfitting, von Vitalik Buterin, E. Glen Weyl